martedì 11 settembre 2012

Die politische Enteignung der Europäer


Die politische Enteignung der Europäer

Mit ihren Lieblingsmantras „Zu uns gibt es keine Alternative“ und „Wenn unser Vorhaben scheitert, scheitert Europa“ werden die Retter nicht durchkommen

Von Hans Magnus Enzensberger
06.09.2012
Krise? Welche Krise? Die Cafés, die Bistros und die Biergärten sind gut besucht, auf den deutschen Flughäfen drängeln sich die Urlauber, man hört von Rekordumsätzen der Exportwirtschaft und von sinkenden Arbeitslosenzahlen. Ganz so, als spiele sich der Zustand der Europäischen Union nur im Fernsehen ab. Gähnend nehmen die Leute von den wöchentlich erklommenen „Gipfeln“ der Politiker und vom wirren Streit der Experten Notiz. Das alles scheint sich in einem rhetorischen Niemandsland voll unverständlicher Sprachregelungen abzuspielen, das mit dem Alltag der sogenannten Lebenswelt nichts zu tun hat.
Offenbar fällt es den wenigsten auf, dass die europäischen Länder seit geraumer Zeit nicht mehr von demokratisch legitimierten Institutionen regiert werden, sondern von einer Reihe von Abkürzungen, die sich an ihre Stelle gesetzt haben. Wo es lang geht, darüber befinden EFSF, ESM, EZB, EBA und IWF. Nur Experten sind imstande, diese Akronyme auszubuchstabieren.
Auch, wer was und wie in der EU-Kommission und in der Euro-Gruppe beschließt, erschließt sich nur den Eingeweihten. Gemeinsam ist all diesen Einrichtungen, dass sie in keiner Verfassung der Welt vorkommen, und dass kein Wähler bei ihren Entscheidungen etwas mitzureden hat.
Es mutet gespenstisch an, mit welcher Gelassenheit die Bewohner unseres kleinen Kontinents ihre politische Enteignung hingenommen haben. Das mag daran liegen, dass es sich um ein historisches Novum handelt. Im Gegensatz zu den Revolutionen, Staatsstreichen und Militärputschen, an denen die europäische Geschichte reich ist, geht es bei uns lautlos und gewaltfrei zu. Darin besteht die Originalität dieser Machtübernahme. Keine Fackelzüge, keine Aufmärsche, keine Barrikaden, keine Panzer! Alles spielt sich friedlich im Hinterzimmer ab.
Dass dabei auf Verträge keine Rücksicht genommen werden kann, wundert niemanden. Existierende Regeln wie das Subsidiaritätsprinzip der Römischen Verträge oder die Bailout-Verbotsklausel von Maastricht werden ganz nach Belieben ausgehebelt. Pacta sunt servanda – dieser Grundsatz gilt als leere Phrase, die sich irgendwelche juristischen Bedenkenträger der Antike ausgedacht haben.
Ganz offen wird die Abschaffung des Rechtsstaates im Vertrag über den ESM proklamiert. Die Beschlüsse der maßgebenden Mitglieder dieses Rettungsvereins sind völkerrechtlich unmittelbar wirksam und an die Zustimmung von Parlamenten nicht gebunden. Sie nennen sich, wie in den alten Kolonialregimes üblich, Gouverneure und sind, ebenso wie die Direktoren, der Öffentlichkeit keine Rechenschaft schuldig. Im Gegenteil, sie sind zur Geheimhaltung ausdrücklich verpflichtet. Das erinnert an die Omertà, die zum Ehrenkodex der Mafia gehört. Unsere Paten sind jeder gerichtlichen oder gesetzlichen Kontrolle entzogen. Sie genießen ein Privileg, das nicht einmal einem Chef der Camorra zusteht: die absolute strafrechtliche Immunität. (So steht es in den Artikeln 32 bis 35 des ESM-Vertrages.)
Damit hat die politische Enteignung der Bürger ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Eingesetzt hat sie schon viel früher, spätestens mit der Einführung des Euro. Diese Währung ist das Resultat eines politischen Kuhhandels, der alle ökonomischen Voraussetzungen eines solchen Projekts mit Gleichgültigkeit gestraft hat. Ignoriert wurden die Ungleichgewichte der teilnehmenden Volkswirtschaften, ihre stark divergierende Wettbewerbsfähigkeit und ihre ausufernden Schuldenlasten. Auch auf die historischen Unterschiede der Kulturen und Mentalitäten des Kontinents nahm der Plan, Europa zu homogenisieren, keine Rücksicht.
Bald mussten die Kriterien, die für den Beitritt zur Euro-Zone vereinbart waren, wie Plastilin je nach Belieben zurechtgeknetet werden, mit der Weiterung, dass Länder wie Griechenland oder Portugal aufgenommen wurden, denen es an den elementarsten Möglichkeiten fehlt, sich in diesem Währungsverbund zu behaupten.
Weit entfernt davon, die Geburtsfehler dieser Konstruktion einzugestehen und zu korrigieren, insistiert das Regime der Retter darauf, den eingeschlagenen Kurs um jeden Preis fortzusetzen. Die immergleiche Behauptung, dazu gebe es „keine Alternative“, leugnet die Sprengkraft der zunehmenden Differenzen unter den beteiligten Nationen. Schon seit Jahren zeichnen sich die Folgen ab: Spaltung statt Integration, Ressentiments, Animositäten und gegenseitige Vorwürfe statt Verständigung. „Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa.“ Mit diesem aberwitzigen Slogan soll ein Erdteil mit einer halben Milliarde Bewohnern auf das Abenteuer einer isolierten politischen Klasse eingeschworen werden, ganz so, als wären zweitausend Jahre ein bloßer Klacks verglichen mit einem neu erfundenen Papiergeld.
An der sogenannten Euro-Krise erweist sich, dass es nicht bei der politischen Enteignung der Bürger bleiben kann. Sie führt, ihrer Logik nach, zu ihrem Pendant: der ökonomischen Enteignung. Erst dort, wo die wirtschaftlichen Kosten zutage treten, wird klar, was das bedeutet. Die Menschen in Madrid und Athen gehen erst dann auf die Straße, wenn ihnen buchstäblich keine andere Wahl mehr bleibt. Das wird auch in anderen Regionen nicht ausbleiben.
Gleichgültig, mit welchen Metaphern die Politik sich schmückt, ob sie ihren neuesten Wechselbalg Rettungsschirm, Bazooka, dicke Bertha, Eurobonds, Fiskal-, Banken- oder Schuldenunion tauft – spätestens, wenn es ans Zahlen geht, erwachen die Völker aus ihrer politischen Siesta. Sie ahnen, dass sie früher oder später für alles einstehen müssen, was die Retter angerichtet haben.
Die Zahl der denkbaren Optionen ist in dieser Situation begrenzt. Die einfachste Art, Schulden, ebenso wie Ersparnisse zu liquidieren, ist die Inflation. Aber auch Steuererhöhungen, Rentenkürzungen und Zwangsabgaben kommen in Betracht, Maßnahmen, die bereits in Aussicht genommen sind und je nach den jeweiligen Vorlieben der Parteien Anklang finden. Schließlich kommt auch noch ein letztes Mittel in Betracht, die Währungsreform. Sie ist ein bewährtes Mittel, um die kleinen Sparer zu bestrafen, die Banken zu schonen und die Verpflichtungen der Staatshaushalte zu streichen.
Ein einfacher Ausweg aus der Falle zeichnet sich nicht ab. Alle vorsichtig angedeuteten Möglichkeiten sind bisher erfolgreich blockiert worden. Die Rede von einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten ist ungehört verhallt. Schüchtern vorgeschlagene Ausstiegsklauseln wurden nie in einen Vertrag aufgenommen. Vor allem aber verhöhnte die Europa-Politik das Prinzip der Subsidiarität, eine Idee, die viel zu einleuchtend ist, als dass sie jemals ernst genommen worden wäre. Das Fremdwort besagt nicht mehr und nicht weniger, als dass von der Kommune bis zur Provinz, vom Nationalstaat bis zu den europäischen Institutionen, die bürgernächste Instanz stets alles zu regeln hat, wozu sie imstande ist, und dass jeder höheren Ebene nur Regelungskompetenzen überlassen werden dürfen, die anders nicht wahrgenommen werden können. Das war, wie die Geschichte der Union beweist, immer nur ein leeres Wort. Sonst wäre Brüssel der Abschied von der Demokratie nicht so leicht gefallen, und mit der politischen und ökonomischen Enteignung der Europäer wäre es nie so weit gekommen wie heute.
Trübe Aussichten also? Gute Zeiten für Katastrophenliebhaber, die nicht nur den Zusammenbruch des Bankensystems, den Bankrott verschuldeter Staaten oder am liebsten gleich das Ende der Welt an die Wand malen! Aber wie die meisten Untergangspropheten freuen diese Wahrsager vermutlich zu früh. Denn die fünfhundert Millionen Europäer werden nicht geneigt sein, ohne Gegenwehr einfach aufzugeben, etwa nach den Lieblingsmantras ihrer Retter: „Zu uns gibt es keine Alternative“ und „Wenn unser Vorhaben scheitert, scheitert Europa“. Dieser Kontinent hat schon ganz andere und viel blutigere Konflikte angezettelt, durchlebt und überstanden als die heutige Krise. Ohne Kosten, Auseinandersetzungen und schmerzliche Einschränkungen wird es beim Rückzug aus der Sackgasse, in die uns die Ideologen der Entmündigung geführt haben, nicht abgehen. Die Panik ist in dieser Lage der schlechteste Ratgeber, und wer einen Abgesang auf Europa abstimmt, kennt seine Stärken nicht. Von Antonio Gramsci stammt das Motto: „Pessimismus der Intelligenz, Optimismus des Willens.
Hans Magnus Enzensberger ist ein deutscher Schriftsteller. 2011 sorgte sein Buch Sanftes Monster Brüssel für Aufsehen. Seither hat sich Die Entmündigung Europas, so der Untertitel, noch vertieft. DER HAUPTSTADTBRIEF bat ihn, die Folgen der Rettungspolitik für Europa zu analysieren. Hier sein Befund.

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